DAS UNFASSBARE SCHEITERN DER SG
1994 spielten Borussia Fulda und Schlüchtern um den Aufstieg in die Oberliga
25.06.2020
FULDA/SCHLÜCHTERN
Ein Großteil der Fuldaer verbindet mit 1994 die Landesgartenschau und das Stadtjubiläum. Den Handball-Enthusiasten hingegen ist das unerbittliche Duell zwischen Borussia Fulda und der SG Schlüchtern um den Titel in der Bezirksliga und den Aufstieg in die Oberliga in Erinnerung geblieben.
Eigentlich schien Schlüchtern die Meisterschaft im Mai 1994 schon in der Tasche zu haben. Vier Punkte aus den letzten drei Spielen hätten bereits gereicht. Borussia Fulda wähnte sich geschlagen auf Platz zwei. Doch dann machten der damals von Marek Kowacki trainierten SG Schlüchtern die Nerven einen Strich durch die Rechnung. In Flieden und gegen Petersberg kamen die Bergwinkelstädter jeweils nicht über ein Unentschieden hinaus. Fulda witterte wieder Morgenluft, patzte aber am vorletzten Spieltag mit einem Unentschieden beim Tabellendritten, dem TV Steinau, blieb aber in Schlagdistanz zu Schlüchtern. So musste der letzte Spieltag die Entscheidung bringen, als beide Topteams sich im direkten Duell in der Gellingshalle gegenüberstanden. Schlüchtern besaß bei zwei Zählern Vorsprung und einem 20:14-Hinspielsieg im Rücken die bei weitem besseren Karten. Doch Fulda machte das Unmögliche wahr und siegte mit exakt dem gleichen Ergebnis, so dass beide Mannschaften am Ende punktgleich waren und auch der direkte Vergleich unentschieden geendet hatte. Da die Tordifferenz damals nicht herangezogen wurde, mussten zwei Entscheidungsspiele zur Ermittlung des Meisters herangezogen werden. Borussia Fulda hatte als erstes Team Heimrecht. Doch hier fingen die Schwierigkeiten bereits an, erinnert sich Fuldas damaliger Trainer Jürgen „Josch“ Kemmerzell: „Die Gellingshalle war von der Fernsehsendung Blauer Bock belegt.“ Anstatt für Handball war dieser Termin also fest für Heinz Schenk, Ebbelwoi und Bembel reserviert. „Schlüchtern war auch nicht bereit, das Heimrecht zu tauschen, so dass wir nach Hofbieber ausweichen mussten“, erzählt Kemmerzell weiter. Und dieses vermeintliche „Heimspiel“ in der ausverkauften Hofbieberer Kreissporthalle ging aus Fuldaer Sicht mit 19:20 verloren. Doch wer nun glaubte, die Entscheidung sei gefallen, musste sich eines Besseren belehren lassen. Schließlich begann nun die Gerüchteküche mächtig zu brodeln. Da Schlüchterns damaliger Torhüter Cosmin Popa zur neuen Saison nach Fulda wechselte und sein Vertrag bei der SG im April auslief, stand er für die Entscheidungsspiele im Mai nicht mehr zur Verfügung. „Weil sich unser Ersatztorhüter verletzt hatte, hatten wir mit Klaus Herrmann nur noch einen Torhüter zur Verfügung. Deswegen hat unser Abteilungsleiter Werner Seitel händeringend nach Ersatz gesucht“, berichtet Schlüchterns Rechtsaußen Jens „Sheriff“ Orth. Und Seitel fand hochkarätigen Ersatz in Person von Rudi Rauer – mit Gummersbach Deutscher Meister und Europapokalsieger sowie mit der Nationalmannschaft 1978 Weltmeister. Zudem kursierte auch noch der Name Erhard Wunderlich rund um den Bergwinkel. Der einst beste Rückraumspieler der Welt hatte seine aktive Laufbahn ein Jahr zuvor beendet und wäre für diese eine Begegnung womöglich zu haben gewesen. Die Nachrichten rund um die Sportgemeinschaft blieben auch in Fulda nicht ungehört. Seitels Gegenüber Achim Schaus sah Handlungsbedarf und verpflichtete für dieses eine Spiel den hochdekorierten gerade vereinslosen jugoslawischen Nationaltorhüter Mirko Basic (Olympiasieger 1984 und Weltmeister 1986) sowie den kroati-
Borussia führte 18:16, als Schlüchtern 80 Sekunden vor Ende einen Siebenmeter erhielt.
schen Rückraumspieler Mladen Vanic – ebenfalls Nationalspieler. Und diese Nacht und Nebelaktion sollte sich letztlich auszahlen. Zunächst aber gehörten Basics Torwartkollegen Klaus Herrmann auf Schlüchterner Seite die Schlagzeilen. Der damals auch bereits 38 Lenze zählende Routinier trieb Fuldas Angreifer zur Verzweiflung und ermöglichte seinen Vorderleuten, einen 8:2-Vorsprung herauszuwerfen. In dieser ersten Halbzeit war der gemeinsam mit Basic erst zwei Tage zuvor aus Zagreb eingeflogene Vanic aber noch nicht im Fuldaer Spiel integriert. Mit einer lautstarken Gardinenpredigt in der Pause brachte Kemmerzell seine Mannen auf den rechten Weg. Vanic lief nun zur Galaform auf. Fulda holte einen Treffer nach dem anderen auf und führte 80 Sekunden vor Schluss mit 18:16, als die Unparteiischen auf Siebenmeter für die Gastgeber entschieden. Würde dieser „sitzen“ und Fulda kein weiterer Treffer mehr gelingen, wäre Schlüchtern bei Torgleichheit aufgrund der im Hinspiel auswärts mehr erzielten Treffer aufgestiegen gewesen. Bernd Otto, zuvor sechsmal erfolgreich, schritt zur Tat. Doch in dieser entscheidenden Szene erstarrte der sonst so treffsichere Rückraumspieler vor dem Weltklassetorhüter aus Jugoslawien wie das Kaninchen vor der Schlange. Der Arm wurde immer schwerer, der Wurf geriet zu einem „Würfchen“ und damit zu einer sicheren Beute für Basic. Den Gegenangriff vollendete Fulda, das auch noch den über 40 Lenze zählenden Rechtsaußen Rudi Lechleidner für alle Fälle auf die Bank gesetzt hatte, mit dem 19:16 und durfte über den Titel jubeln. rd
SCHLÜCHTERNS PROTEST
Kurzfristig Meister
Kurz nach der Partie bat Schlüchtern um Prüfung der Spielberechtigung von Mladen Vanic auf seine Richtigkeit. Zunächst wurde diese seitens des Hessischen Handballverbandes angezweifelt und der Fuldaer Bezirksvorstand angewiesen, Schlüchtern zum Meister und Aufsteiger zur Oberliga zu ernennen. Wenige Tage später dann aber die Kehrtwende. „Die Spielberechtigung war doch rechtens“, hieß es in einem von Geschäftsführer Günter Dörr und Verbandsrechtswart Josef Semmelroth an Fuldas Abteilungsleiter Bernd Quell gesendeten Fax. / rd
3 FRAGEN
Vor dem Entscheidungsspiel schüttelten beide Abteilungsleiter noch einige Trümpfe aus dem Ärmel. Wie haben Sie die Situation damals wahrgenommen?
Durch die Verpflichtung des ehemaligen Nationaltorhüters Rudi Rauer und der Aussage des Trainers Kowacki im Rückspiel noch eine Überraschung zu präsentieren, hatten sich die Verantwortlichen Achim Schaus/Winfried Wess genötigt gefühlt, ebenfalls auf dem Spielermarkt aktiv zu werden.
Die Gellingshalle war durch den „Blauen Bock“ belegt, so dass Borussia nach Hofbieber ausweichen musste. War dieser Umstand ein großer Nachteil, zumal Borussia dort das Hinspiel ja mit einem Tor verloren hatte?
Sicherlich war es ein Nachteil, in Hofbieber zu spielen; es war somit definitiv kein Heimspiel. Ein Tausch der Spieltage wäre fair gewesen, so aber eskalierte die Situation, die Stimmung war richtig aufgeheizt!
Später sind Sie ja selbst nach Schlüchtern als Trainer gewechselt. Gab es für Sie als Trainer in Schlüchtern besondere Momente, die Ihnen noch lebhaft in Erinnerung haften geblieben sind?
Die Landesliga-Zeit in Schlüchtern war mit Höhen und Tiefen belegt. Die Mannschaft hat in den Heimspielen gegen die mit vielen Berufsspielern bestückten Titelfavoriten Baunatal und später Vulkan Vogelsberg bewiesen, was für ein Potenzial in ihr steckte. Wir haben Vulkan wie in einem Rausch aus der Halle geschossen, das war grandios.
SPLITTER
Fest verwurzelt: Im Bergwinkel ist die aus Dipperz stammende „Rhöner Eiche“ Harald Ullrich („HU“) inzwischen fest verwurzelt.
Reger Austausch: Mit André Kemmerzell, Dirk Kemmerzell, Marco Kemmerzell, Dominik Jäger, Jürgen Kapitz und Stefan Seidel spielten später zahlreiche Handballer des SC Borussia Fulda für die SG Schlüchtern.
Kurze Wartezeit: Die SG Schlüchtern erfüllte sich – wenn auch etwas zeitverzögert – doch noch den Traum von der Oberliga. Zwei Jahre später klappte es mit dem Aufstieg ins hessische Oberhaus.
Chronik Abteilung Handball SG Schlüchtern
Die Geschichte des Handballs in Schlüchtern begann 1946. Im Zusammenhang mit dem Aufbau dieser Abteilung des Vereins sind besonders Rudi Nierlein, Hans Lotz und Hans Gutermuth zu nennen, die mit viel Mühe diese Sportart, der bis heute noch Bestandteil des Vereinslebens ist, gründeten.
Nich lange nachdem die Abteilung ins Leben gerufen wurde, entstand eine Frauen-Mannschaft, die bald beachtliche Erfolge erzielen konnte. Ein Höhepunkt war die Teilnahme am Endspiel der Hessen-Meisterschaft gegen den mehrmaligen deutschen Frauen-Handball-Meister „Eintracht Frankfurt“, das nur knapp verloren wurde.
Nach wechselden Erfolgen in den 60er und 70er Jahren und zeitweise Nachwuchsmangel, verhalf die kontinuierliche Jugendarbeit vor allem der Männer-Mannschaft in den 80er Jahren wieder zu einer stetigen Aufwärtstendenz. Bis heute spielten sowohl die Männer- als auch die Frauen-Mannschaft bereits erfolgreich in der Bezirks- und Landesliga.
Ereignisse und Erfolge Jahre 1990 bis 2009
Saison 1990/1991
Freundschaftsspiel der Männer gegen ZSKA Moskau
Männer: Meister Bezirksliga Fulda II, Aufstieg in Bezirksliga Fulda I
Frauen: Aufstieg in die Bezirksliga Fulda
Saison 1991/1992
Freundschaftsspiel der Männer gegen Dukla Prag (600 Besucher): Ergebnis: 18:30 (7:14)
Männer: Vize-Meister
Damen: Abstieg von Bezirksliga in Kreisklasse
Weibliche B-Jugend: Vizemeister
Saison 1992/93
Freundschaftsspiel der Männer gegen Bramac Veszprem. (Ung. Meister, Europapokalsieger 1992)
Männer: Bezirksliga I Fulda, Trainer: Trainan Dumitru, Vize-Meister
Weibliche B-Jugend: Vizemeister
Saison 1993/94
Freundschaftsspiel der Männer gegen Olympia-Sieger und Weltmeister Russland
Männer: Bezirksliga I Fulda, Vize-Meister
Weibliche B-Jugend: Vizemeister
Saison 1994/95
Freundschaftsspiel der Männer gegen die ägyptische Nationalmannschaft
Männer: Bezirksliga I Fulda, Platz 3
Damen: Damen-Spielgemeinschaft Schlüchtern/Altengronau
Saison 1995/96
Freundschaftsspiel der Männer gegen die Kubanische National-Mannschaft
Männer: Meister Bezirksliga I Fulda, Aufstieg in Oberliga
Saison 1996/97
Freundschaftsspiel der Männer gegen die ungarische National-Mannschaft
Männer: Oberliga: Platz 6
Saison 1997/98
Freundschaftsspiel gegen den Zweit-Ligisten Eintracht Wiesbaden
Männer: Oberliga: Platz 11
Jugendspielgemeinschaft zwischen SG Schlüchtern und TV Steinau
Saison 1998/99
Männer: Abstieg in die Bezirksliga I Fulda
Damen: Aufstieg in Bezirksliga Fulda
Saison 2000/2001
Männer: Aufstieg in Landesliga Nord
Saison 2002/2003
Männer: Dritte Saison in der Landesliga Nord
Saison 2003/2004
Männer II: Bezirksliga A Fulda
Saison 2004/2005
Freundschaftsspiel Männer gegen National-Mannschaft aus Kuwait
Saison 2005/2006
Männer: Abstieg aus der Landesliga Nord in die Bezirks-Oberliga Fulda
Erstes Jugend-Turnier (22 Stunden Handball) zum Saison-Auftakt
Saison 2006/2007
Damen: Bezirksliga Fulda
Männer: Bezirks-Oberliga Fulda
Männer II: Meister Bezirksliga Fulda
Saison 2007/2008
Männer: Bezirks-Oberliga Fulda
Weibliche B-Jugend: Aufstieg in Landesliga
Männliche B-Jugend: Meister im Bezirk Fulda
Saison 2008/2009
Die Abteilung Handball wechselt vom Bezirk Fulda in den Bezirk Offenbach/Hanau
Männer: Bezirksoberliga
Jugend-Spielgemeinschaft (JSG) SG Schlüchtern/TV Steinau
17. Oktober 2008
Vertragsunterzeichnung Handballspielgemeinschaft HSG Kinzigtal TV Steinau/SG Schlüchtern.
Die Vorsitzenden Burkhard Lamm (TV Steinau), Dr. Jochen Brugger (SG Schlüchtern) sowie die Abteilungsleiter Heinz Kreile (TV Steinau) und Peter Schäffner (SG Schlüchtern) unterzeichnen bei Notar Hans-Konrad Neuroth den Vertrag.
Saison 2009/2010
Die Handball-Spielgemeinschaft HSG Kinzigtal TV Steinau/SG Schlüchtern spielt mit allen Mannschaften im Bezirk Offenbach/Hanau.
2010
30. Juli: Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Stammverein SG Schlüchtern: Freundschaftsspiel Männer zwischen HSG Kinzigtal und Bundesligist HSG Wetzlar in der Großsporthalle Schlüchtern.
Freundschaftsspiel der „Old Stars SG Schlüchtern Oberliga – Old Stars SG Schlüchtern Landesliga“.
Abteilungsleiter Handball 1990 bis heute
1990 – 1996 Werner Seitel, 1996 – 1998 Günter Frenz, 1998 – 2005 Daniela Strauch, 2005 – 2007 Jan Lauer, 2007 – 2009 Peter Schäffner, 2009 – 2014 Horst Bayer, ab 2014 Oliver Ohrmann